Gänsehüten / Gänsweide
In den vorigen Jahrhunderten war unser Dorf ausschließlich durch Landwirtschaft und Handwerk geprägt. Neben dem Bestellen der Felder war natürlich die Viehhaltung ein wesentlicher Bestandteil der Lebenshaltung, denn sie diente der Versorgung mit Fleisch, Wurst, Fett, Wolle, Federn, Leder usw. und sicherte so auch ein gewisses Einkommen. Die hergestellten Waren wurden sogar bis ins ferne Frankfurt zu Fuß mit dem Handwagen oder Rucksack zum Verkauf gebracht.
Die Viehhaltung war anders als heute. Die Tiere, egal ob Kühe, Schafe, Schweine oder Gänse, wurden von Hirten auf eine Weide zum Grasen bzw. Futtern gebracht und zum Abend wieder in den heimischen Stall. Kühe und Schweine waren oft auch im Wald zur Futtersuche mit dem Hirten unterwegs, gab es für die Schweine doch reichlich Bucheckern und Eicheln. Bei den Schafen hatten wir in Ulfa zwei Herden, die zuletzt nur die ihnen zugewiesenen Bereiche beweiden durften und auch ihre eigene Wasserstelle hatten. Dazu wurde noch im Jahre 1925 bei der Feldbereinigung eine Tränke am „Birnche“ hergestellt.
Ebenso hatte das Gänsehüten eine besondere Bedeutung im Ort und sorgte täglich morgens und abends für ein großes Spektakel. Bis Ende der 1950er Jahre wurden die Ulfaer Gänse in der Zeit von April bis Oktober täglich auf die Weide geführt. Laut Gemeindestatistik gab es 1948 = 330 Gänse im Ort, deren Zahl sich bis 1959 auf 175 Gänse verringerte.
Die letzte „Gänseliesel“ (so war der Dorfname) war Marie Louise (Liese) Fleischer, geb. Ruhl, geb. am 24.4.1890 in Nösberts und starb am 20.7.1965 in Ulfa. Morgens ging sie mit einer Holzklapper durchs Dorf, die Bauern öffneten den Gänsestall und die Gänse rannten auf die Strasse und hinter der „Gänseliesel“ her. Wo die Liesel nicht vorbei kam, mußten die Bauern ihre Gänse beitreiben. Sammelplatz war dann an der „Brückebach“. Von dort führte sie die Gänseschar zur Gänsweide, wo die Gänse frisches Gras fressen und ruhen konnten. Wasser zum Trinken und Baden gab es in dem nahen Bach genügend. Zum Schutz der Hüteperson vor Regen gab es am Rand des Platzes eine kleine Schutzhütte.
Zwischen 16 und 17 Uhr ging es dann wieder Richtung Dorf zurück, wobei manche Gänse in Erwartung von anderem Futter so ungeduldig wurden, dass sie das letzte Stück bis zur Brückebach flogen. Leider kam es dabei aber auch (selten) vor, dass eine Gans an die Stromleitung und ums Leben kam. Vom Sammelplatz liefen die Gänse meist in Begleitung ihrer Eigentümer zu den Hofreiten – die Gänse kannten ihren Weg genau. Was war das ein Geschrei und Durcheinander bis sich die Herde aufgelöst hatte. Heute kaum vorstellbar war, dass in der Notzeit nach dem Kriege manche Flüchtlinge die Federn einsammelten, die den Gänsen beim Grasen und dem Heimweg ausgefallen waren.
Aus dem Jahre 1875 wissen wir aus einem Gemeindeprotokoll (14.4.1875), dass für das betreffende Jahr die Witwe des Johann Konrad Fritz, Anna Juliana, geb. Edelmann, das Gänsehüten übernahm. Sie erhielt von der Gemeinde 5 Pf. pro Gans und 2 Pfd. Brot als Wochenlohn. Bei angenommen 250 Stück Hütegänsen waren das 15 Mark die Woche, was jemand ohne Einkommen sicher gerne nahm.
Weiter haben wir eine „Ortssatzung für den Weidebetrieb mit Gänsen in der Gemeinde Ulfa“ gefunden, in welcher in sieben Paragraphen die Einzelheiten zum Weidebetrieb geregelt waren. Hierin war eine Obergrenze von 800 Gänsen gesetzt, die zum Weidebetrieb zugelassen wurden. Es kann daher angenommen werden, dass die Anzahl der Gänse im Ort weit höher war als im Jahre 1948.
Text: G. Stahnke, 2021
Dokumente :
Geschehen Ulfa den 14. April 1875
Betreffend: Das Hüten der Gänse pro 1875
In der heutigen Gemeinderathssitzung wurde
bezüglich des Hütens der Gänse verhan=
delt und hiernach beschlossen: daß dasselbe
der Konrad Fritz Witwe dahier über=
tragen werden soll und erhält dieselbe
als Lohn pro Stück: 5 Pf. und zwei
Pfund Brod.
Das Ausführen der Gänse hat morgen schon
zu geschehen und bis zum Martinitag
d. J. fortzusetzen. Ferner hat sich dieselbe
stets den Anordnungen des Ortsvorstandes
zu fügen.
Der Gr. Bürgrmst. Der Gemeinderath Der Gänsehirt
Döll J. Ludwig XI Konrad Fritz Witwe
G. J. Eiser
Ludwig Bast
Philipp Reichardt
Johs. Roth VI.
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Anmerkung: - Die Witwe des Konrad Fritz hieß Anna Juliana, geborene
Edelmann aus Eichelsdorf, geb. am 30.6.1821, gestorben am
18.7.1892 in Ulfa
- Der genannte Lohn wird ein Wochenlohn gewesen sein; alles
andere wäre unverhältnismäßig
Quelle: - Stadtarchiv Nidda; Ulfa, Gemeinderatsbeschluss